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Digital Design und Anamorphose – Wahrnehmungs-basierte Architektur

Bauwelt digitalBAU 2022 Köln

Im Kern des architektonischen Entwurfsprozesses von GRAFT steht der Wahrnehmungshorizont des raum-zeitlichen oder szenografischen Erlebens. Darauf fokussierende Entwurfsmethoden sind durch die Weiterentwicklung der digitalen Entwurfs-Werkzeuge im #3D modelling entscheidend mitgeprägt worden. Animierte raum-zeitliche Techniken des „computer aided“ oder #digital design ermöglichen erst, die Architektur als zeitliche Abfolge im Raum dynamisch zu begreifen. Dazu betreibt GRAFT #Forschung und Entwicklung in Zusammenarbeit mit der Charité Berlin, um insbesondere Stress-induzierende Faktoren in der Wahrnehmung von Szenografie im Raum besser verstehen und empirisch bewerten zu können.

Rückblickend erscheint es nicht zufällig, dass die Bürogründung von GRAFT 1998 in Los Angeles mit der Frühphase zweier sich seitdem radikal weiter entwickelnder Entwurfs-Werkzeuge zusammenfällt: Zum einen dem immer intuitiver werdenden „parametric design“ zur Identifikation und Modifikation relevanter Entwurfs-Parameter in der Formfindung. Zum anderen der im Umfeld von Hollywood vollkommen selbstverständlichen Technik mit Hilfe von „Story Boards“ das Raum-Zeit-Erlebnis als szenische Abfolge abzubilden und durch immer professionellere simulierbare „Realität“ in „Echt-Zeit“ darzustellen.

Die Verschmelzung zwei- und dreidimensionaler Darstellungen in ein und demselben Entwurfswerkzeug, und die Möglichkeit, sich „in Räume hinein“ versetzen zu können und durch Bewegung des virtuellen Auges in diesem zu „wandern“, macht das Erlebnis des gebauten Raumes im zeitlichen Kontinuum als dynamisches Phänomen und Wahrnehmungs-Produkt des Rezipienten seitdem zum Ausgangspunkt der Suche nach einer neunen Entwurfs-Methodik bei GRAFT. Die Erfindung von „anamorphotischen Diagrammen im Raum“ führt dabei zu nur durch Bewegung in der Zeit zu entschlüsselnde Form.

Ein frühes Beispiel eines solches architektonischen Konzeptes von GRAFT ist der Flagship-Store der Skater-Schuhmarke DC Shoes in New York aus dem Jahr 2003. Der legendäre Sprung des professionellen Skaters Danny Way wurde, wie in der Akrobatik-Analyse üblich, in eine Reihe von Standbildern zerlegt und diese schließlich invertiert in eine Abfolge von Wandscheiben übersetzt, aus denen die dynamischen Silhouetten des Skaters im Sprung ausgeschnitten sind. Erst über den Umweg der dynamischen Raumfigur des Springenden in der Zeit kann die Ableitung der physisch erlebbaren Figur des architektonischen Raumes verstanden werden.

Einen artverwandten Weg geht der Entwurf für die Zahnarztpraxis KU64 in Berlin. Erst durch anamorphotische Projektion von Bildern im virtuellen 3D-Modell konnten exakte Vorgabe für das Aufbringen von Grafiken in der Raumfigur gemacht werden. Betrachter erschließen sich Bilder erst schrittweise durch die eigene Bewegung im Raum, was zu Ruhe- bzw. Umlenkpunkten in einem mnemotischen Raum führt. Die Technik der Projektion von zweidimensionalen Bildern im dreidimensionalen Raum befreit das Bild von seiner Autonomie als Abbild und macht es zum Werkzeug einer Entschlüsselung der dreidimensionalen Raum-Abfolge.

Auch die Kernidee des Ausstellungskonzeptes „Unbuilding Walls“ für den Deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig 2018 nutzt dieses Phänomen. Hier löst sich das Bild einer den Weg versperrenden zweidimensionalen schwarzen Raumgrenze oder „Mauer“ von etwa 3,5m Höhe, erst durch Eintreten und Bewegung im Raum auf. Durch leichtes Verändern des Blickwinkels werden im Raum verteilte Wand-Fragmente erkennbar, die nur aus dem Standpunkt beim Betreten des Raumes zu einem zweidimensionalen „Bild“ von Mauer optisch vervollständigen. Die Raummetapher einer virtuellen zweidimensionalen Raumgrenze, deren Wahrnehmung sich durch Änderung des physischen Standpunktes verändern lässt, dadurch zugänglich und somit „erfahrbar“ wird ist Quell und Ziel des Konzepts zugleich: Entscheidend in diesem 3D-Narrativ war ist, dass die Empfindung oder Deutung des Archetyps „Mauer“ verschwinden kann, wenn man den eigenen „point of view“, also Standpunkt wie auch Haltung, verlässt.

Thomas Willemeit, GRAFT